Portrait: Die Andere Welt Bühne

„Der Regisseur Matthias Merkle hat, inspiriert von dem Bauhausarchitekten Friedrich Kiesler, eine so konstruktivistisch wie mittelalterlich anmutende Drehbühne gezimmert, durch die das Modell einer feudalen Krone ebenso schimmert wie das Brecht’sche Räderwerk eines großen Mechanismus, den man Staat nennen könnte. Das Multifunktionsgerüst dient seit Juni als Dauerbühne, über die bereits die ersten zwei Premieren liefen. Die Schauspielerin und Co-Leiterin des Theaters Melanie Seeland erarbeitete sie zusammen mit einem kleinen Ensemble hoch motivierter, spielwütiger Kolleginnen und wechselnden Gastregisseuren. […] allein der Mut, im Brandenburger Outback zuerst nach Dringlichkeit zu suchen anstatt nach leichtem Konsum, ist ein echter Gewinn.“ – Berliner Zeitung, Doris Meierhenrich

Die Andere Welt Bühne hat sich in den drei Jahren ihres Bestehens unter der Leitung von Melanie Seeland und Ines Burdow weit über die Grenzen von Strausberg und Brandenburg einen Namen gemacht.
Das ehemalige Wasserwerk des Fernmeldezentrums der DDR, eine entkernte Halle mit baulichen Erweiterungsmöglichkeiten, wird und wurde von einer Gruppe Theaterschaffender als Bühnenraum entwickelt: Ein Theaterbetrieb und eine Compagnie mit einem spartenübergreifenden, inhaltlich vielfältigen Ansatz und einem breiten Angebot an Kulturveranstaltungen. Den roten Faden, der sich sowohl durch die künstlerische als auch die pädagogische Arbeit zieht, bildet der Standort der Spielstätte. Das östlich von Berlin sich befindenden Gelände der „Anderen Welt“, das ab Ende der 1970er Jahre als Fernmeldeknotenpunkt der DDR konstruiert wurde, bildet mit diversen Funktionsgebäuden, Hallen und seinem unterirdischen Bunker ein imposantes und zugleich historisch irrwitziges Gelände und wirft, daran gespiegelt, gesellschaftliche Fragestellungen auf, an denen das Theater sowohl künstlerisch als auch betrieblich seine Haltung entwickelt.

Die Andere Welt Bühne ist als Theater in Strausberg und Umgebung einzigartig – auch dem Umstand geschuldet, weil es weit und breit kein Theater gibt.

Die Andere Welt Bühne arbeitet mit Menschen aus allen Theaterbereichen – mit freien Kollegen und Kolleginnen, die unter anderem von Häusern wie dem Berliner Ensemble, dem Deutschen Theater und der Volksbühne Berlin kommen. Unter Einbindung von Brandenburgern und Brandenburgerinnen; Geflüchteten, Berichtenden und Wissen-Wollenden erarbeitetet das Ensemble im Vorfeld zu verschiedenen Themen jährlich ein Recherchestück, das vor allem in der Region eine große Ausstrahlung hat. Neben den Sparten „Schauspiel“, „Recherchestück“ und „Lesungs-Matineen“ kam 2020 die Sparte „Kindertheater“ dazu, in der ebenfalls mit verschiedenen Künstlern und Künstlerinnen aus dem Kindertheaterbereich zusammengearbeitet wird.

Mit der Spielzeit 2020 präsentiert die Andere Welt Bühne ihre vor Ort entstandene zweigeschossige Raumbühne als Weiterentwicklung einer Drehbühne in der Industriehalle des ehemaligen Wasserwerks. Die neue, prägende Einrichtung verbindet kunsthistorische Inspiration und Recherche mit Überlegungen zu ökologisch achtsamer Nachhaltigkeit im Theaterbetrieb und originärer ästhetischer Wirkungsabsicht – dies alles vor Ort umgesetzt und also einzigartig im Sinne von: nicht universell und übertragbar.

Allein die Inspiration kommt nicht nur aus dem Wald: Friedrich Kieslers Entwürfe und Überlegungen aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Raumbühne hatten wesentlichen Einfluss auf Aspekte von Architektur, Ästhetik und Wirkungsweise der Einrichtung. Der österreichische Architekt und Bühnenbildner Friedrich Kiesler entwickelte ab den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts elektromechanische Bühnenbilder, spiralförmige Raumbühnen, modulare Ausstellungssysteme und gilt mit seinen Designkonzepten als einer der großen Visionäre der Moderne im Umfeld des Bauhauses.
Friedrich Kieslers Ziel war es, mit seiner Raumbühne der klassischen Guckkastenbühne, die ihm eine starre „Kiste mit einem Vorhang als Deckel“ war, einen „elastischen“ Raum entgegen zu stellen, um die Bildbühne im Raum aufzulösen. Aus der klassischen Addition von Wort, Mensch, Requisite, Licht und Kulisse sollte eine Integration dieser Bestandteile werden, die mit der Bewegung der Bühne und der Objekte und Subjekte multipliziert wird.
In der damaligen Zeit ging es dabei vor allem darum, die Theatermittel zu erweitern und die Bühnenkunst in die Moderne zu transformieren. Inspiriert von Kieslers Raumbühne hat Matthias Merkle eine eigenständige Umsetzung des Kiesler-Modells für das ehemalige Wasserwerk der Anderen Welt Bühne entwickelt.

Situiert inmitten des ehemaligen Strausberger Stadtwalds ist für das Team des 2017 gegründeten Theaters die Frage nach ökologisch sinnvoller, ressourcenschonender und nachhaltiger Betriebsamkeit schon immer eine natürliche. Dem üblichen Materialaufwand des Theaterbetriebs wird mit der Raumbühne entschlossen begegnet: Bühnenbilder entstehen maßgeblich mit der Auswahl der Drehung, der Nutzung der Ebenen, der Fokussierung von Möglichkeiten; Ausstattung bleibt Thema weit jenseits von Materialschlacht und Müllberg. Mobiliar, mehrfach verwendbare Stoffe, Scheinwerfer und Requisiten komplettieren Bühnenbilder in den jeweiligen Belangen der einzelnen Produktionen.

Die Andere Welt Bühne: wasserwerk-theater.com